Von der Synästhesie zur Malerei: Interview mit Nicole Rudi

Von der Synästhesie zur Malerei: Interview mit Nicole Rudi

Nicole Rudi ist eine vielschichtige und beeindruckende Künstlerin. Als weltweit gefeierte Konzertpianistin entdeckt sie im Laufe ihres Lebens ihre Gabe der Synästhesie, durch die sie Farben in der Musik wahrnimmt. Während Töne und Klänge erklingen, erscheinen Farbkompositionen vor ihrem inneren Auge in all ihren Texturen und Facetten, die sie dann auf die Leinwand bringt. Durch diese besondere Form der Wahrnehmung wird nicht nur ihr virtuoses Klavierspiel, sondern vor allem ihre Kunst zu einem einzigartigen Erlebnis.

Warum haben Sie sich für eine künstlerische Laufbahn entschieden?

Im Grunde war ich mein ganzes Leben schon eine Künstlerin, aber eben erst am Klavier. Ich habe seit ich denken kann Klavier gespielt und mich schließlich für eine Laufbahn als Konzertpianistin entschieden, nach dem Abitur an den Musikhochschulen in Hannover, Wien und Düsseldorf Klavier studiert und meine pianistische Karriere nach und nach aufgebaut. Mit 25 Jahren habe ich gemerkt, dass mir noch etwas fehlt, ein weiteres Medium, mich künstlerisch auszudrücken. Die Synästhesie hat mich hingegen schon mein ganzes Leben lang begleitet - ich habe immer Farben in der Musik gesehen. Der innere Drang, diese gehörten Farben auf die Leinwand zu bringen, hat mich zu jener Zeit dazu getrieben, dies endlich umzusetzen. Seitdem bin ich leidenschaftliche Künstlerin auf zwei Ebenen.

"Ich fange die Essenz der Musik in meiner Kunst ein und mache sie damit dauerhaft sicht- und fühlbar." - Nicole Rudi


Was inspiriert Sie jeden Tag zu Ihrer Arbeit?

Klassische Musik. Allerdings sind es nicht einfach nur die Töne, Rhythmen und Melodien, sondern ihr Tiefgang und die Botschaft dahinter. Es ist der Reichtum an Emotionen, den sie innehat, jedes Werk auf seine ganz eigene Art und Weise. Klassische Musik und das Spielen selbiger ist nicht nur meine Leidenschaft, sondern Teil meines Lebens und Teil meines „Ichbewusstseins“. Durch sie komme ich in einen Austausch mit meinen eigenen Emotionen, kann mich ausdrücken, mich selbst wahrnehmen, fühlen und resonieren. Im Grunde ist die Musik wie ein Ventil, durch das Emotionen freigelassen und ausgedrückt werden.


Welche Themen behandeln Sie in Ihrer Kunst und warum ist Ihnen das so wichtig?

Klassische Musik hat eine wahnsinnig große Kraft der Selbstfindung und der Selbstidentifikation. Ich bin der Meinung, dass man sich immer und zu jeder Zeit in ihr wiederfinden kann, ganz gleich, ob es der Ist-Zustand ist oder das, wonach sich die Seele gerade sehnt: Hoffnung, Kraft, Vertrauen, Mut, Trost oder einen Zufluchtsort. Mir geht es um den Identifikationsmoment, wo man merkt: „Das hat etwas mit mir zu tun“ oder „Das bewegt mich - das will ich sein, dort will ich hin“. Ich denke jene, die schon einmal tief berührt mit Tränen in den Augen in einem Konzertsaal gesessen oder sich derart von einem Orchester mitreißen lassen haben, wissen, wovon ich spreche. Trotzdem erreicht diese Musik nicht auf Anhieb jede und jeden, weshalb ich meine Aufgabe darin sehe, diese Brücke zu schlagen und den Kern der Musik visuell erfahrbar zu machen.


Welcher Aspekt des kreativen Prozesses gefällt Ihnen am besten?

Wenn ich in einen Zustand komme, in dem ich Raum und Zeit vergesse und mich wie in Trance befinde, mein Verstand wie auf Knopfdruck aussetzt und ich nicht mehr steuern kann, zu welcher Farbe ich als nächstes greife oder was der nächste Schritt ist. Es ist wie eine innere Triebkraft, der ich nicht entkommen kann, wenn sie einmal da ist. In diesem Moment lasse ich mich komplett fallen und mich voll und ganz von meiner Intuition leiten. Ich denke, diesen Zustand kann man auch Flow nennen. Wenn ich dieses Gefühl erreicht habe, dann weiß ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin.


Wie würden Sie Ihre Technik beschreiben?

Da ich mich in meiner Arbeit auf Farbklänge und dessen Emotionen fokussiere, kann ich mich kaum auf eine einzige Technik beschränken. Es kommt immer darauf an, welches Musikwerk ich im Sinn habe und wie dessen Dynamik, Charakter und Affekt mit meinem Innenleben resoniert. In meinem abstrakten Kunststil bin ich stets auf der Suche danach, welche Technik dem Kern und Wesen der mir zugrunde liegenden Musik am nächsten kommt, ohne die von mir bereits gesehenen Farben und Formen aus dem Auge zu verlieren. Meistens beginne ich mit einer Schichttechnik und arbeite mich durch verschiedene Farbverläufe, bei anderen Werken arbeite ich mehr mit Struktur oder bediene mich einer Art des Action Paintings, bei der ich flüssige Farbe auf die Leinwand laufen lasse.


Beginnen Sie Ihre Arbeit mit einem vorgefassten Konzept oder einer Vorstellung davon, was Sie erreichen möchten, oder ist das Ergebnis unerwartet?

Wenn ich ein Musikwerk höre, sehe ich im Grunde direkt Farben vor meinem inneren Auge, was mit meinem synästhetischen Empfinden zu tun hat - im Prinzip habe ich nicht wirklich in der Hand, welche Farben ich dabei sehe. Spiele ich hingegen das Klavierstück, formen sich einige Details für mich noch etwas mehr und dabei hat das Tempo, die Dynamik und insgesamt der interpretatorische Ansatz einen großen Einfluss auf die Entstehung des Kunstwerkes. Noten sind nicht gleich Noten für mich: Eine Phrase kann mit den selben Noten ganz anders gespielt werden, die dann auf einmal die Farbkomposition vor meinem inneren Auge komplett verändert - denn in dem Moment bin ich allein die Schöpferin der musikalischen und künstlerischen Interpretation. Alles wird bestimmt durch die Musik und die Farben, die mich in dem Moment wie ein Schleier umgeben und umhüllen.


Wie wissen oder entscheiden Sie, wann ein Kunstwerk fertig ist?

Vielleicht andersherum: Wenn ich glaube, das Kunstwerk sei fertig, aber mehrmals zurück ins Atelier laufe, das Bild von allen Seiten anschaue und einen inneren Drang verspüre, etwas verändern zu wollen, kann es noch nicht fertig sein. Einige Kunstwerke lassen mich tage- oder wochenlang nicht los und beschäftigen mich rund um die Uhr. Dann gibt es aber auch Kunstwerke, an denen ich von Anfang an bis zum Ende in einem Guss arbeite, ohne zu bemerken, dass mehrere Stunden am Stück vorbeigegangen sind. Aber ganz gleich, wie viele Stunden oder Tage ich dafür brauche: Wenn ich am Ende eines langen Arbeitsprozesses den Pinsel voller innerer Zufriedenheit fallen lasse, weiß ich: Das ist es. Darauf hat nur meine Intuition und mein Bauchgefühl Einfluss.


Welche anderen kreativen Menschen, Bücher, Musik oder Filme inspirieren Sie?

In der klassischen Musik gibt es unzählige Komponisten, die mich wahnsinnig inspirieren und dessen Werke ich als Vorbilder meiner Kunst hinzuziehe. Am meisten inspiriert mich jedoch Alexander Skrjabin (Komponist des 19. und 20. Jahrhunderts), der auch Synästhet war und durch seine Theorie der Ton-Farbe-Zuordnung eine rein synästhetische Musik geschaffen hat. Ich selbst ordne zwar nicht jedem Ton eine konkrete Farbe zu - sondern schließe von Klängen auf Farben - dennoch finde ich diese Form von Wahrnehmung, wie sie bei ihm stark ausgeprägt war, sehr bereichernd.

Aus der bildenden Kunst inspirieren mich am meisten Jackson Pollock und Gerhard Richter. Die Dynamik von Pollocks Gemälden zog mich schon vor vielen Jahren direkt in seinen Bann, als ich, ohne ihn und seinen Stil zu kennen, auf einen Kunstdruck in meinen Studienzeiten in Hannover traf. Sein Malstil spiegelt für mich am allerbesten ein Zusammenspiel von Intuition, Planung und Zufall wieder - in meinen Augen absolut faszinierend. Gerhard Richter ist hingegen jemand, der für mich am besten eine Welt der unsichtbaren und unverständlichen Wirklichkeit sichtbar macht, während die Realität vollständig in den Hintergrund rückt.

Sonata tragica (F. Schubert: Sonate a-moll D 784) - 100x100cm


Haben Sie bestimmte Rituale oder unverzichtbare Gegenstände im Atelier?

Neben den üblichen Werkzeugen darf bei mir nie ein Schwamm und eine Packung Tücher fehlen, die im Grunde die Hauptwerkzeuge meiner Arbeit sind. Meine Lautsprecher sind ebenfalls unverzichtbar. Sie stehen im Hintergrund, über die ich immer wieder das Musikstück laufen lasse, das in dem Moment nicht nur die Inspirationsquelle, sondern das Fundament meines Kunstwerkes abbildet. So kann ich immer wieder in die Musik und in mich selbst hineinhören. Manchmal liegen auch die Noten zu dem Stück griffbereit auf dem Tisch, wo ich hin und wieder einen Blick drauf werfe.

Arbeiten Sie mit Beispielen aus dem wirklichen Leben oder basieren Ihre Werke hauptsächlich auf Fantasie?

Das ist eine spannende Frage. Meine Kunst beruht grundsätzlich auf Musik - und Musik ist Emotion und deshalb real. Aber Musik macht so viel mehr, sie berührt uns nicht nur, sondern erschafft eine eigene Welt, mal eine reale Welt, mal eine Traumwelt, mal eine Fantasiewelt. Aber genau diese Wechselwirkung macht den Unterschied und kommuniziert am Ende in meinen Kunstwerken auf mehreren Ebenen mit mir und den Betrachtenden. Und nicht zuletzt wirft sie Fragen auf - auf die Welt und auf sich selbst.

Lento placido (F. Liszt: Sonetto del Petrarca 123) - 100x100cm


Wie kommen Sie auf die Titel Ihrer Kunstwerke?

Die Titel entnehme ich häufig den Tempo- und Ausdrucksbezeichnungen aus den Musikwerken, die mein Fundament für das Gemälde bilden. Solche Bezeichnungen sind beispielsweise „Allegro maestoso“, „Largo e mesto“ oder „Presto energico“, um nur einige zu nennen. In diesen Bezeichnungen findet man nicht nur die Information, wie schnell oder langsam etwas gespielt werden soll, sondern, und das ist entscheidend, mit welchem Ausdruck - ein wichtiger von vielen Faktoren, der meinen Kunstwerken eine bedeutende Richtung gibt.


Würden Sie uns mehr über Ihr derzeitiges Projekt erzählen - woran arbeiten Sie?

Meine derzeitige Serie, an der ich arbeite trägt den Titel „Im Nebel“, in der ich u.a. Werke von Franz Schubert und Leoš Janáček behandle. Dieses Projekt stellt eine Reise zum eigenen Seelenzustand dar, mit emotionalen Höhen und Tiefen und der Suche nach dem eigenen Ausdruck. Dabei stelle ich scharfe Kontraste inmitten von wehklagenden Nebelfarben dar und nehme die Betrachtenden mit zu einer Reise in die Tiefen der eigenen seelischen Vergangenheit und Gegenwart.


Wo möchten Sie gerne einmal ausstellen und warum?

Selbstverständlich würde ich gerne mal in den großen Museen dieser Welt ausstellen, aber viel mehr interessieren mich Orte, wo klassische Musik ihre Heimat hat: Die Berliner Philharmonie, die Elbphilharmonie Hamburg, die Philharmonie de Paris, die Carnegie Hall New York … an diesen Orten könnten Konzertbesucher/innen auf meine Kunst treffen, die nicht nur die gespielten Konzertprogramme repräsentiert, sondern in die Tiefe der Musik geht, die Welt und die Gesellschaft hinterfragt und Unsichtbares sichtbar machen kann - was für ein schöner Gedanke. Und dabei ist es für mich ganz irrelevant, ob ich selbst auf der Bühne spiele oder eben auch andere Ausführende bzw. Orchester.


Wo sehen Sie Ihre Künstlerkarriere in 5 Jahren?

Ich sehe meine Kunstwerke auf internationalen Ausstellungen, auf den großen Konzertpodien dieser Welt und der Wunsch, meine Kunst in Verbindung mit Musik an ein noch viel größeres Publikum heranzutragen, geht in Erfüllung. Aber nicht nur das: Klassische Musik erreicht eine größere Anzahl von Menschen - vor allem das jüngere Publikum - und die Botschaft dahinter kann durch meine Arbeit sichtbarer, klarer und verständlicher werden.

Besuchen Sie jetzt die Website von Nicole Rudi:

www.nicolerudi-art.com

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