Rebellion, Typografie und die Kraft der Widersprüche. Interview mit Georg Steidinger

Rebellion, Typografie und die Kraft der Widersprüche. Interview mit Georg Steidinger

Georg Steidinger verbindet Punk-Attitüde, Popkultur und philosophische Tiefe zu einer eigenständigen Bildsprache aus Text, Farbe und Druck. Aus der Underground-Szene kommend, erschafft er vielschichtige Werke, die Ambivalenzen sichtbar machen und bewusst Reibung erzeugen. Seine Kunst fordert heraus, denkt weiter und lädt dazu ein, Widersprüche als produktive Kraft unserer Zeit zu begreifen.

Warum haben Sie sich für eine künstlerische Laufbahn entschieden?

Meine Beziehung zur Kunst war von Anfang an sehr ambivalent. Die etablierte Kunstszene? Für mich nichts weiter als überbewertete Selbstinszenierung, die nach Provokation schrie. Ich kam aus der Underground-Szene der 80er, war Musiker, Produzent und immer auf der Suche nach Selbstverwirklichung. Schließlich bot mir die Kunst einen neuen Raum, den ich mir ganz ohne Regeln und Konventionen erobert habe. Für mich die konsequente Weiterführung meines kreativen Weges, weil sie mir erlaubt, meine Themen visuell radikal, aber auch ästhetisch und mit philosophischem Tiefgang auszudrücken.

Was inspiriert Sie jeden Tag zu Ihrer Arbeit?

Widersprüche. Beobachtung von Menschen, Sprache und gesellschaftlichen Entwicklungen – und wie sie in Musik, Popkultur, aber auch Mode, Literatur und Film thematisiert werden. Überall begegnen mir Themen, die Fragen nach Identität, Wandel und Selbstfindung aufwerfen. Diese Fragen liefern mir jeden Tag neue Impulse, diese Spannungen in Farben, Formen und Worte zu übersetzen - typographisch und in meiner eigenen Popart-Ästhetik.

„Meine Kunst ist eine einzigartige Kombination von typographischen und malerischen Elementen, die mehrdeutig und vielschichtig sind“

Welche Themen behandeln Sie in Ihrer Kunst und warum ist Ihnen das so wichtig?

Meine Kunst beschäftigt sich mit der Vielschichtigkeit unserer Zeit – mit all den Gegensätzen, Spannungen und Überschneidungen, die unser Leben und unsere Gesellschaft prägen. Diese Einflüsse greife ich auf, remixe sie und setze sie in einen neuen Kontext. Ich will Kunst schaffen, die wachrüttelt und hinterfragt, die Bedeutung hat, ohne dass sie auf den ersten Blick zu greifen ist. Keine glatten Antworten, sondern Ecken und Kanten.


Welcher Aspekt des kreativen Prozesses gefällt Ihnen am besten?

Die Balance zwischen Text und Bild. Ich kreiere meine Kunstwerke mit einer einzigartigen Kombination aus typographischen und malerischen Elementen, mehrdeutig und vielschichtig. Die besondere Herausforderung: Wie viel Raum nimmt das Malerische ein, welche Bedeutung lasse ich den Worten und typographischen Elementen zukommen? Worte und Buchstaben werden von mir nicht bloß als Text, sondern als visuelle und poetische Elemente eingesetzt, die Bedeutung und einen besonderen Rhythmus in das Bild bringen. Dieses Ringen um Balance macht jedes einzelne Werk für mich zu einer neuen Erfahrung.


„Was mich inspirieren sind Widersprüche: zwischen Popkultur und Philosophie, Rebellion und Poesie, Identität und gesellschaftlichem Wandel.“

Wie würden Sie Ihre Technik beschreiben?

Ich bin ein großer Fan der Siebdruck-Technik. Aber letztendlich ist die unkonventionelle Mischung aus Malerei, Druckgrafik und Typographie zu meinem Markenzeichen geworden. Ein konkretes Beispiel ist meine Arbeit mit alten Schallplattenhüllen: Die werden erst einmal radikal mit schwarzer Ölfarbe neutralisiert - dann kombiniere ich Songtexte oder Siebdrucke aus Mode-Anzeigen mit dem was vom Original Cover übrig bleibt. Hier arbeite ich immer zuerst digital, lege Layouts an und übertrage sie dann analog in meine Kunst. Dieser bewusste Bruch zwischen den Techniken – digital und handgemacht – fasziniert mich, weil er den kreativen Prozess entschleunigt und den Werken mehr Tiefe verleiht.

Beginnen Sie Ihre Arbeit mit einem vorgefassten Konzept oder einer Vorstellung davon, was Sie erreichen möchten, oder ist das Ergebnis unerwartet?

Am Anfang steht für mich eine Fragestellung, Gedanken oder eine Spannung, die ich sichtbar machen möchte. Meine Werke entstehen dann schichtweise – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Acryl, Pigmente, Sand, Collagematerialien, LP-Cover, Plakate, Transferdrucke und Siebdrucktechnik werden in langwierigen Prozessen kombiniert, überarbeitet, verworfen und neu erschaffen. Zwischen den einzelnen Arbeitsschritten lasse ich meine Leinwände oft über Wochen oder Monate ruhen. In dieser Phase reflektiere ich das bereits Geschaffene, nehme Veränderungen vor und arbeite weiter, sobald eine neue Idee mich inspiriert. Dieser offene, mehrstufige Arbeitsprozess erlaubt es mir, spontane Impulse, musikalische Inspirationen und emotionale Energie unmittelbar in meine Werke einfließen zu lassen.

THE SIRENS (BORN TO BE AWESOME) - Siebdruck auf Leinwand, 100x120cm

Wie wissen oder entscheiden Sie, wann ein Kunstwerk fertig ist?



Das ist wirklich eine der größten Herausforderungen: Einerseits muss das Bild meine konzeptionelle Vorstellung widerspiegeln, gleichzeitig darf es aber nicht zu perfekt rüberkommen. Wenn ein Werk zu glatt, zu abgeschlossen wirkt, verliert es genau das, was mich interessiert: die Reibung, die offene Stelle, an der sich Betrachterinnen und Betrachter einklinken können. Deshalb  schaue ich mir das Werk in unterschiedlichen Kontexten und Lichtsituationen an – etwa so, wie es später in einem privaten Raum über einem Sideboard hängen könnte. Nur wenn es auch dort seine Kraft entfaltet, ist es fertig. Wenn es dort nicht funktioniert, geht es zurück ins Atelier.


Welche anderen kreativen Menschen, Bücher, Musik oder Filme inspirieren Sie?



Mich inspiriert die Kraft der Musik – besonders die rohe Energie des Punkrock - rebellisch, laut und provokant. Vieles davon landet unmittelbar in meiner Kunst: Roh und unperfektionistisch, aber voller emotionaler Intensität. Gleichzeitig finde ich in klassischer Literatur, Mythologie und Philosophie eine Quelle für Tiefe: Fragen nach Identität, Vergänglichkeit und Ambivalenz. Mich reizt genau dieser Kontrast: das Rebellische und Laute einerseits, das Poetische und Philosophische andererseits. Diese Gegensätze verschmelzen in meiner Arbeit. Zu einer Bildsprache, die kraftvoll und zugleich nachdenklich ist.

NEVER SAY NEVER 30x30cm


Haben Sie bestimmte Rituale oder unverzichtbare Gegenstände im Atelier?

Laute Musik und eine kurze Reflektion, wo ich im Prozess stehe – weil ich parallel oft an mehreren Werken arbeite. Erst dann stürze mich mit voller Kraft und Energie wieder in die Arbeit. Ein Talisman, der für mich zugleich das Symbol meiner künstlerischen Freiheit ist: ein Postkarten-Multiple von Joseph Beuys, der mich mit seiner Kunst gelehrt hat, Grenzen zu überschreiten und kompromisslos Neues auszuprobieren.

Arbeiten Sie mit Beispielen aus dem wirklichen Leben oder basieren Ihre Werke hauptsächlich auf Fantasie?

Meine Werke sind tief durchdrungen von persönlichen Erfahrungen und kollektiven Prägungen – von der Punk-Ästhetik der 80er, über die visuelle Sprache von Popkultur und Mode, bis hin zu soziopolitischen Beobachtungen unserer Gegenwart. Ich sauge visuelle Reize, Gedanken, Erfahrungen geradezu auf – ich experimentiere, übertreibe und kombiniere sie, bis daraus ein eigenständiges Werk entsteht. Grotesk und provokant, aber immer ästhetisch. Kunst ist für mich kein geschlossener Ausdruck, sondern ein offenes Feld, das Widersprüche nicht glättet, sondern zur Auseinandersetzung auffordert.

Hamlet & Ophelia (Gold), je 50x70cm

Wie kommen Sie auf die Titel Ihrer Kunstwerke?

Oft sind es Songtitel oder Zitate, die mich inspirieren. Manchmal übertrage ich sie in einen neuen Zusammenhang oder setze sie bewusst grotesk ein. Bei Portraits und Figuren greife ich gerne auf Literatur oder die Mythologie zurück, wie etwa bei Ophelia, wo ich den historischen Kontext neu interpretiere. Meine Titel bilden eine Brücke zur Aussage des Werkes: Manchmal lassen sie bewusst Raum für Interpretationen, um zusätzliche Bedeutungsebenen zu schaffen, oft geben sie einen direkteren Hinweis.

Würden Sie uns mehr über Ihr derzeitiges Projekt erzählen - woran arbeiten Sie?

Aktuell arbeite ich an großformatigen Siebdrucken, in denen ich die Grenzen zwischen Malerei und verschiedenen Drucktechniken intensiv erforsche. Damit möchte ich eine höhere Bedeutungsdichte und Komplexität zu schaffen, die zugleich eine starke emotionale und ästhetische Wirkung entfaltet und den Raum mit einbezieht. Das sind dann Arbeiten mit skulpturalen Elementen oder Installationen, die meine Botschaften auch auf der räumlich Ebene erlebbar machen.

„Ich will Kunst schaffen, die wachrüttelt und hinterfragt – keine glatten Antworten, sondern Ecken, Kanten und offene Stellen.“

Wo möchten Sie gerne einmal ausstellen und warum?

Mich reizt es, meine Arbeiten international noch stärker sichtbar zu machen. Ein besonderer Ort wäre für mich das MOCO Museum in Amsterdam. Auch wenn es sich eigentlich um ein Street-Art-Museum handelt, hat mich mein Besuch dort tief beeindruckt. Gerade hier könnte ich auf meine Art Akzente setzen und meine Verbindung von typographischen, popkulturellen und malerischen Elementen in einem neuen Kontext zeigen. Es wäre eine spannende Gelegenheit, meine Kunst in den Dialog mit internationalen Positionen zu bringen und neue Resonanzräume zu eröffnen.

Wo sehen Sie Ihre Künstlerkarriere in 5 Jahren?

Deutlich internationaler – durch Ausstellungen und Projekte. Nicht nur in klassischen Ausstellungssituationen, sondern auch in interdisziplinären Projekten und Kooperationen, wo Kunst auf Musik, Mode, Philosophie oder soziale Diskurse trifft. Besonders wichtig ist mir dabei, Werke zu schaffen, die nicht nur betrachtet, sondern den Raum einbeziehen, in dem sie erlebt werden. Meine Vision ist es, Menschen einzuladen, Ambivalenz und Widersprüche als produktive Kraft zu entdecken – und Kunst als einen Raum zu verstehen, in dem sie neue Perspektiven entwickeln können.

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Weitere Informationen zu Georg Steidinger unter:
www.steidinger.net