Zwischen Schein und Sein: Bettina Sellmann – Malerei als Blick hinter den Vorhang der Realität

Zwischen Schein und Sein: Bettina Sellmann – Malerei als Blick hinter den Vorhang der Realität

Figuren, die zwischen Präsenz und Auflösung pendeln; barocke Porträts mit Manga-Anklängen; Schichtungen und Schüttungen, die aus der Nähe zu reiner Malerei werden: Bettina Sellmann erkundet die Bruchkante zwischen Illusion und Realität. Ihre Bilder fragen, wie „süß“ ein Motiv sein darf und dabei radikal ernst bleibt. Unter der Oberfläche wirken Philosophie des Geistes, Vedanta und Meditation – nicht als Theorie, sondern als Praxis, die das Ego aus dem Bild nimmt, bis „das Bild sich selbst malt“.

Sellmann, 1971 in München geboren, studierte an der Städelschule in Frankfurt (u. a. bei Jörg Immendorff, Christa Näher und Thomas Bayrle), an der École des Beaux-Arts in Paris und am Hunter College in New York, wo sie ihren MFA erwarb und über ein Jahrzehnt lebte und ausstellte. Seit 2010 arbeitet sie in Berlin. Ihre Arbeiten sind in renommierten Sammlungen vertreten – u. a. im Museum of Modern Art (MoMA), New York. Auszeichnungen wie das Skowhegan Residency Program und das DAAD-Jahresstipendium unterstreichen die Resonanz ihrer Arbeit.

Bettina Sellmann in Ihrem Berliner Atelier (Foto: Silvio Pelegrin)

Im Gespräch mit Athena Art Magazine spricht Sellmann über den gelenkten Zufall im Atelier, die Freiheit des Blicks und Malerei als Einladung, feste Kategorien zu hinterfragen. Das Cover des Athena Art Magazine Issue 003 (Oktober 2025) zeigt ihr Werk „Generations“.

Athena Art Magazine: Wir freuen uns sehr, in dieser Ausgabe mit Bettina Sellmann ins Gespräch zu kommen. Ihre Malerei bewegt sich zwischen Illusion und Realität, Schönheit und Auflösung. Bettina, Sie sagen: Unsere Wahrnehmung ist eine Illusion. An welchem Ihrer Bilder lässt sich das besonders gut zeigen – und was passiert, wenn man näher herantritt?

Bettina Sellmann: Das gilt eigentlich für alle meine Arbeiten. Aus der Distanz scheint da ein Gesicht, eine Figur. Je näher man herangeht, desto deutlicher werden die einzelnen Pinselstriche, die Verläufe – das Bild zerfällt in Malerei. Bei Velázquez sieht man das wunderbar: Herangezoomt ist es ein einziges „Gemetzel“, aus der Entfernung ein überzeugendes Gesicht. So wünsche ich mir auch meine Bilder: Die Technik ist sichtbar, nichts ist auf Fotorealismus getrimmt. Ein Beispiel wäre die Frau vor dem großen grünen Grund, die ihr Kind hält. Aus der Nähe löst sich alles auf, sie bleibt ungreifbar.

Wir leben gewissermaßen in einem Spiel. Fest steht: Die „Welt“ ist nicht das, was sie zu sein scheint.“ (Foto: Silvio Pelegrin)


Athena Art Magazine: Sie arbeiten mit transparenten Schichtungen, Schüttungen und fließenden Konturen. Wie steuern Sie den Punkt, an dem eine Figur zwischen Präsenz und Auflösung kippt – Planung oder kontrollierter Zufall?

Bettina Sellmann: Beides. Ich lege die Leinwand auf den Boden und schütte Pigmentlösungen – eine Art farbige Pfützen. Oft skizziere ich mit Pastell grob, wo etwas hin soll. Die Schüttung ist dadurch minimal gelenkt, bleibt aber letztlich eigensinnig und macht, was sie will. Dann lasse ich trocknen, greife ein, wenn etwas gar nicht passt, und wiederhole das zwei-, dreimal. Es sind gelenkte Zufälle. Der schönste Moment ist die Überraschung: Ins Atelier kommen, die getrocknete Fläche sehen und merken, dass das Bild ein Stück weit von selbst entstanden ist.

Athena Art Magazine: Sie sprechen von einer non-dualen Realität. Welche Rolle spielen Meditation, Philosophie oder Rituale in Ihrem Atelieralltag – und spürt man das in Form und Farbe?

Bettina Sellmann: Eine große. Mich interessiert seit jeher, „hinter den Vorhang“ zu schauen und zu verstehen, wer ich bin und wohin ich gehe. Theorie bringt nur bedingt weiter, deshalb habe ich über drei Jahrzehnte verschiedene Meditationspraktiken ausprobiert – anfangs in einer eher dualistisch geprägten Schule, heute näher an Vedanta und Nondualität. Ideal ist es, vor dem Malen zu meditieren: Der Geist wird leiser. Wenn es gut läuft, malt es sich dann von selbst – das gelingt nur, wenn das Ego aus dem Weg geht. Bei gelungenen Bildern habe ich nicht das Gefühl, sie „gemacht“ zu haben. Ich könnte viele davon auch nicht wiederholen. Ob ich das „Energie“ nennen würde? Schwer zu sagen. Eher etwas Unbenennbares, eine Leere, die immer da ist. In solchen Momenten ist das Ich weg – eine Entgrenzungserfahrung. Das wünsche ich mir auch für die Betrachter: ein Gefühl von Befreiung. Häufig höre ich Sätze wie: „Ich wusste gar nicht, dass man so etwas machen darf“ – oder dass jemanden die Arbeit berührt hat.

Generations, acrylic on canvas, 240 × 200 cm. Courtesy of the artist and Galerie Greulich.


Athena Art Magazine: Sie haben oft mit Themen gearbeitet, die früher als „Tabu“ galten: Rosa, Kindlichkeit, Weiblichkeit. Was reizt Sie daran, und wie vermeiden Sie, dass das ins Ironische kippt?

Bettina Sellmann: Mich interessiert die Frage: Wie „süß“ kann ein Bild sein und trotzdem ernst bleiben? Ironie ist für mich kein Ausweg, eher eine bequeme Strategie – die zieht mich nicht an. Als ich studierte, kamen Leute ins Atelier und sagten: „Rosa gefällt mir nicht“, als wäre die Farbe ein Qualitätsargument. Oder es hieß, etwas sei „zu weiblich“ und darum minderwertig – ein reines Scheinargument. Seit dem Kunstforum zu Cuteness sprechen zwar viele darüber, aber diese Grenze fasziniert mich schon lange. Der Kontext ist hier extrem wichtig, sonst wird die Arbeit missverstanden. Kitschgalerien oder bloß „hübsche Bilder“ sind nicht meine Sache.

Athena Art Magazine: Welche Widerstände haben Sie in Ihrer Ausbildung und später erlebt?

Bettina Sellmann: An der Städelschule war Malerei an sich schon verdächtig, „sich Mühe geben“ erst recht. Figuratives galt als völlig out. Ich aber habe ernsthaft gemalt und bewusst Mädchenhaftes thematisiert – obwohl viele das damals nicht verstanden. Natürlich war diese Skepsis der Malerei gegenüber auch sehr hilfreich, weil man wirklich eine gute Begründung erarbeiten musste für das, was man tut! Später war es anders: In New York, wo ich vor Berlin lebte, war figurative Malerei längst im Trend. Als ich 2010 nach Berlin kam, dominierten hier noch oft Grau-Schwarz-Töne; meine Farben empfanden manche als zu extrem. Grundsätzlich gab es aber weit weniger Widerstand.

"Ich will Menschen über Schönheit hineinziehen und ihnen dann eine neue Perspektive bieten" (Foto: Silvio Pelegrin)

Athena Art Magazine: Wie wirkt sich Berlin als Stadt auf Ihre Arbeit aus?

Bettina Sellmann: Berlin ist angenehmer und weniger hektisch als New York – wenn auch stressiger geworden. Die Lebensqualität ist höher. Die Ausstellungen hier sind vielleicht nicht ganz so spektakulär wie in New York, dafür ist der künstlerische Austausch intensiver. Ich bin in mehreren Netzwerken, z. B. dem Malerinnen Netzwerk Berlin-Leipzig, und habe viele Kolleginnen, mit denen ich mich eng austauschen kann – das schätze ich sehr.

Athena Art Magazine: Welche Kreativen, Bücher, Musik oder Filme inspirieren Sie?

Bettina Sellmann: Eine befreundete Schriftstellerin, Cassandra Neyenesch, aus New York inspiriert mich stark. Siri Hustvedt finde ich großartig, auch wenn mein letztes Buch von ihr schon etwas her ist. Am meisten beschäftigt mich Philosophy of Mind – „The Hard Problem of Consciousness“ – und vor allem die Schnittstelle zwischen Vedanta und Philosophie des Geistes. Extrem interessant finde ich neurowissenschaftliche Perspektiven, etwa bei Donald Hoffman. Die Simulationsthypothese spricht mich an: Wir leben gewissermaßen in einem Spiel. Fest steht: Die „Welt“ ist nicht das, was sie zu sein scheint. Eine Mücke erlebt etwas völlig anderes als ein Elefant. Materie ist nicht solide; auf kleinster Ebene findet man lediglich Wahrscheinlichkeiten. Und das Ego ist eine Funktion des Gehirns, kein kleines „Ich“ irgendwo hinter der Stirn.

Bargaining, acrylic on canvas, 130 × 170 cm,

Athena Art Magazine: Wenn jemand Ihre Kunst zum ersten Mal sieht – wie würden Sie sie in wenigen Sätzen beschreiben?

Bettina Sellmann: Ich will Menschen über Schönheit hineinziehen und ihnen dann eine neue Perspektive bieten: Realität ist weniger festgefügt, als sie scheint – und so eine Art Geistesöffnung ermöglichen, ohne belehrend zu sein. Es soll Spaß machen und, ja, auch einfach „geil“ aussehen. Außerdem will ich Vorurteile reizen – gegen Rosa, gegen Weiblichkeit, gegen Verletzlichkeit. Mich interessiert die Grenze: Wie verletzlich darf ein Bild sein und trotzdem funktionieren? Wer die Bilder einfach nur toll findet, ist genauso willkommen wie jemand, der sie ablehnt. Auf einer Messe meinte mal jemand, ein scharf gemaltes Auge „gehe nicht“, das müsse „schöner“ sein. Nein – nur schön reicht nicht. Sonst ist es keine Kunst.

Athena Art Magazine: Wie sind Sie zu diesen Themen gekommen? Gab es einen Auslöser?

Bettina Sellmann: Eigentlich war es immer da. In meiner Kindheit gab es keinen Todesfall, ich war sehr behütet – Westdeutschland wirkte wie in Watte gepackt. Manchmal hatte ich Angstträume von der Atombombe, aber real passierte „bei uns“ nie etwas. Diese Sicherheit hatte etwas Betäubendes. Ich dachte: Das kann es doch nicht sein. Die Langeweile war der Auslöser. Kunst war der Ausweg aus dem Alltagstrott – Schule, Büro, fertig? Unvorstellbar. Später, mit 32, starb mein Vater unerwartet. Das hat vieles beschleunigt, ich habe mich noch intensiver mit Transzendenz beschäftigt. Aber schon im ersten Studiensemester malte ich Mädchen, Figuren, die vom Licht durchschienen sind, die sich ins Helle auflösen. Transparenz hat mich von Anfang an getrieben.

Athena Art Magazine: Woran arbeiten Sie aktuell?

Bettina Sellmann: Ich arbeite an Tischszenen: Eine ist fertig und bereits verkauft, eine weitere ist in einer Gruppenausstellung bei Foyou im Prenzlauer Berg – die endet heute. Einige sind unfertig im Atelier. Es geht um unsichtbare Verbindungen zwischen Menschen, psychische Fäden; zugleich sind die Figuren durchsichtig.

Athena Art Magazine: Wo sehen Sie sich in fünf Jahren – und wo würden Sie gern ausstellen?

Bettina Sellmann: Ich möchte in Museen oder großen Galerien ganze Räume einrichten, eigene Atmosphären schaffen, in die die Menschen hineingezogen werden. Das ist mir wichtig.

Wir bedanken uns herzlich bei Bettina Sellmann für das offene und inspirierende Gespräch.

Fotos: Silvio Pelegrin

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Weitere Informationen zu Bettina Sellmann unter:
www.bettinasellmann.com