Topografie der Erinnerung: Jochen Ulmer und die Kunst des vielschichtigen Gedächtnisses
Stellen Sie sich vor, Sie blicken auf eine Leinwand, die wie ein geologisches Rätsel wirkt: Farbschichten schimmern durch Risse und Übermalungen, flüchtige Formen tauchen auf und verschwinden wieder. Sie glauben, etwas zu erkennen – ein Fragment, eine Erinnerung – und verlieren es im nächsten Augenblick. Genau dieses Spiel zwischen Sichtbarem und Verborgenem ist das Terrain von Jochen Ulmer. Seine Ölmalerei ist kein ruhiges Stillleben, sondern eine Expedition in unsere Erinnerung. Wer sich auf seine Werke einlässt, betritt eine Topografie aus Farbe, Zeit und Emotion – und entdeckt, dass unser Gedächtnis kein Archiv ist, sondern ein lebendiger, schichtreicher Prozess, der uns formt und ständig neu erschafft.
Was darf sichtbar bleiben – und was muss verschwinden, damit ein Bild erinnert statt abbildet? Ulmer sagt: „Ich lasse Spuren altern, überlagern, verschwinden. An manchen Stellen blitzen sie auf wie Erinnerungsfetzen, die man nicht zu fassen bekommt. Übrig bleiben Fragmente, die wie eine Ahnung dessen, was gewesenen ist, überdauern; es bleiben Kanten und Risslinien wie Sedimente – kleine Widerstände, an denen Erinnerung hängen bleibt, zu tief eingegraben, als dass sie vergessen werden könnte.“
Die Erinnerung als lebendiger Prozess
In Jochen Ulmers Brust schlagen zwei Herzen. Eines als Naturwissenschaftler und eines als Künstler. Ihn fasziniert, wie sich Dinge herleiten lassen, wie Geschichte funktioniert, und wo sich Wissenschaft und Kunst berühren. Für Ulmer ist Erinnerung kein starres Archiv, kein Stapel Papier, aus dem man ein Blatt ziehen kann. „Erinnerung ist rekonstruktiv“, betont er. Sie ist Schichtung, Überlagerung, ein permanentes Neu-Zusammenfügen. Seine Werke bestehen aus vielfach überlagerten Farbschichten, durch die nur Fragmente früherer Zustände hindurchschimmern. Schemenhaft tauchen sie auf, verschwinden wieder, bleiben angedeutet – so wie im menschlichen Gedächtnis auch nur Bruchstücke einer Vergangenheit lebendig bleiben.
Wie prägt der naturwissenschaftliche Blick Ihre Arbeit – vom Versuch bis zum Zweifel? Ulmer erklärt: „Die Komposition ist das Gerüst eines jeden Bildes, dieses muss stehen, bevor ich loslasse. Ich arbeite in Hypothesen, der Zweifel ist dabei Teil der Suche nach dem richtigen Weg: Pigment, Ölanteil, Trockenzeit, Rückbau, Übermalungen von bereits abgeschlossenen Bereichen sind unmittelbarer Ausdruck des Prozesses. Vieles dokumentiere ich, doch am Ende darf das Messbare zugunsten des Erfahrbaren kippen. Gerade diese kontrollierte Unschärfe macht das Bild für mich wahrhaftig und lässt dem Betrachter den Raum in das Bild einzutauchen und es dabei zu seinem eigenen werden.“

Ölmalerei als Reise durch Emotion und Farben
Wer Jochen Ulmers Bilder betrachtet, begibt sich auf eine Reise. Er selbst rät den Betrachtern: „Schauen Sie sich das Werk erst in Ruhe an. Dann findet sich ein Detail, an dem man sich festbeißt – und man beginnt, sich durch das Bild zu arbeiten.“ Diese Reise kann zutiefst emotional sein. Immer wieder reagieren Betrachter auf Ausstellungen tief berührt. Ulmer erinnert sich an eine junge Dame, die vor seinem Werk stehen blieb und zu weinen begann. Sie fühlte sich von dem Kunstwerk an ihre schwierige Kindheit erinnert und die Zeit zurückversetzt. Ein anderes Mal blieb ein älterer Mann lange vor einem Bild stehen, in dem er Vögel zu erkennen glaubte, die ihn an seine verstorbene Frau erinnerten. Für Ulmer sind solche Reaktionen keine Überraschung, sondern Beleg dafür, dass Kunst Prozesse auslöst – nicht nur ästhetische, sondern auch biografische.
Wie viel Deutung geben Sie vor – und wo beginnt der Raum des Betrachters? Ulmer präzisiert: „Ich gebe Hinweise, so können Formen in den Bildern Assoziationen zu vertrautem wecken, sie können helfen, den Prozess der Suche in Gang zu bringen. Jeder hat eigene Erinnerungen, die Reise wird daher auch für jeden anders verlaufen, das kann ich nicht bestimmen. Was ich tun kann ist, durch den Temperaturbereich der Farbe, die Formensprache und Linienführungen den Ton zu setzen, die sich daraus entwickelnden Geschichten, gehören den Betrachtern; das Bild stellt die Topografie, nicht den Weg.“

Inspirationen aus der Natur
Seine Motive entstehen nicht allein im Atelier. Ulmer ist ein leidenschaftlicher Wanderer, oft in der Natur unterwegs, wo Landschaften und Lichtstimmungen seine Vorstellungskraft nähren. Unterwegs hält er Eindrücke in einem kleinen Notizblock fest – Skizzen, Farbstimmungen, Gedanken. Diese ersten Fragmente reifen später im Atelier zu großformatigen Werken. „Die Farben sind nicht zufällig, die Komposition hat mit den Stimmungen zu tun, die ich draußen erlebe.“ Am Abend, wenn die Welt stiller wird und die Ablenkungen des Tages nachlassen, empfindet er als seine produktivste Zeit. Dann arbeitet er oft bis tief in die Nacht, begleitet von Podcasts, vertieft in ein langsames, konzentriertes Schichten von Farbe.

Der Schritt in die Öffentlichkeit kam spät
Ulmer malte schon immer. Oft heimlich und im Stillen. Doch nachdem eine Galeristin in den USA auf seine Werke aufmerksam wurde und diese prompt ausstellen wollte, nahm die Karriere ihren Lauf. Seit 2017/18 stellt er regelmäßig dort aus. „In den USA ist man sehr viel farbfreudiger und lauter“, sagt er, „in Deutschland ist man oft etwas zurückhaltender und dezent.“ Seine Werke mit ihrer leuchtenden Farbigkeit und strukturellen Tiefe stoßen deshalb besonders jenseits des Atlantiks auf Begeisterung. Rund zwanzig Werke hat er bislang verkauft, viele davon an Sammler, die sich spontan in die vielschichtige Welt seiner Bilder verliebten. Aktuell arbeitet Ulmer intensiv an einer Werkreihe, die er „Topografie der Erinnerung“ nennt. Hier verdichtet sich sein zentrales Thema zu einer kraftvollen Metapher: Wie eine geologische Landschaft besteht Erinnerung aus Schichten – Ablagerungen, Erosionen, Überlagerungen. In seinen großformatigen Leinwänden lässt er diese Schichtungen sichtbar werden: Unter der Oberfläche blitzen frühere Farbschichten auf, wie geologische Sedimente, die ein uraltes Geschehen verraten. Die Leinwand wird so zum Modell des Gedächtnisses, zu einer Landkarte des inneren Lebens.
Wozu dienen Titel wie „Topografie der Erinnerung“ – Wegweiser oder Erklärung? Ulmer betont: „Titel können als Wegmarken fungieren, sie erzählen uns aber nicht, was wir erleben werden, wenn wir ihnen folgen. Sie geben eine Stimmung vor, lassen aber Deutungsspielraum. So hat mich die Resonanz in den USA zu einer offeneren, lauteren Farbpaletten ermutigt; in Deutschland arbeite ich oft reduzierter, allerdings erlebe ich auch hier ein zunehmendes Interesse für eine klare Farbsprache, was mich ermutigt hat, auch in Deutschland auszustellen. Wichtig ist mir, dass jeder Betrachter seinen eigenen Zugang findet und das benötigt Zeit, etwas, das in unserer schnelllebigen Epoche zunehmend ein hohes Gut wird. Umso mehr freut es mich dann, wenn Betrachter lange vor einem Bild stehen bleiben und sich die Zeit nehmen einzutauchen - sich auf die Reise begeben.“
Fotos: Juliane Ulmer
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